9 x 10 = 91?
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RingParabel

 

>> Vor langem lebte ein Mann, der einen Ring von unschätzbarem Wert besaß, den er nie vom Finger ließ und die Verfügung traf, auf ewig ihn seinem Hause zu erhalten. Er ließ den Ring von seinen Söhnen dem geliebtesten; und setzte fest, dass der wiederum den Ring dem vermache, der ihm der liebste sei; und stets der liebste, in Kraft allein des Rings, das Haupt des Hauses werde.

 

So kam dieser Ring von Sohn zu Sohn, auf einen Vater von drei Söhnen, die er alle drei gleich liebte. Von Zeit zu Zeit schien ihm bald der, bald dieser, bald der dritte würdiger des Ringes; und er versprach einem jeden den Ring.

 

Allein es kam zum Sterben. Was zu tun? - Er sandte insgeheim zu einem Künstler, bei dem er nach dem Muster seines Ringes zwei andere bestellt, sie jenem gleich, vollkommen gleich zu machen. Das gelingt dem Künstler, und selbst der Vater kann seinen Musterring nicht unterscheiden.

 

Froh und freudig ruft er seine Söhne, gibt jedem seinen Segen und seinen Ring, und stirbt.  Kaum war der Vater tot, so kommt ein jeder mit seinem Ring, und jeder will Haupt des Hauses sein. Man untersucht, man zankt, man klagt. Umsonst - der rechte Ring war nicht ermittelbar ... <<

 

Nach Gotthold Ephraim Lessing ("Nathan der Weise")

 

(eigentlich stammt die Geschichte aus dem Decamerone von Boccaccio...)

 

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© Georg Schuster